Center for Life Ethics
Schaumburg-Lippe-Straße 7
D-53113 Bonn

 

+49 228 73 66100

 

lifeethics@uni-bonn.de

18.12.2024

„Offenheit und Neugierde sind der Schlüssel zum Engagement“

© Barbara Frommann/Universität Bonn

„Offenheit und Neugierde sind der Schlüssel zum Engagement“

Interview mit Dr. Stefan Partelow von der Uni Bonn über die Frage, wie ein transformativer Wandel erreicht werden kann, um dem Verlust der biologischen Vielfalt zu begegnen

In einer Zeit vielfältiger Krisen ist der enorme Schwund der biologischen Vielfalt ein der größten Herausforderungen, von deren Folgen bereits unzählige Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind. Inzwischen ist es offensichtlich: Es muss sich etwas ändern - aber was und wie? Dr. Stefan Partelow, Leiter des Forschungsschwerpunkts „Transformation und Governance“ am Center for Life Ethics der Universität Bonn, beschäftigt sich mit genau dieser Frage. Als einer von vielen Wissenschaftlern hat er am Transformative Change Assessment des Weltbiodiversitätsrates IPBES* mitgewirkt, das jetzt veröffentlicht wurde: Es zielt darauf ab, Faktoren in der menschlichen Gesellschaft zu verstehen und zu identifizieren, die genutzt werden können, um einen transformativen Wandel für den Erhalt, die Wiederherstellung und die sinnvolle Nutzung der biologischen Vielfalt herbeizuführen und gleichzeitig soziale und wirtschaftliche Ziele im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen.

 

Herr Partelow, das Transformative Change Assessment des IPBES befasst sich mit dem Schwund der biologischen Vielfalt, genauer gesagt: mit den zugrunde liegenden Ursachen. Um welche Ursachen handelt es sich dabei?

 

Nach früheren Bewertungen und Berichten von IPBES-Sachverständigen ist der weltweite Schwund der biologischen Vielfalt das Ergebnis einer nicht nachhaltigen Nutzung der Natur aufgrund politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen, die auf einem eng gefassten Spektrum von Werten basieren. Wir zerstören zu viele Lebensräume, verändern zu viel Land, übernutzen die Wasserressourcen und stoßen zu viele Treibhausgase aus, die den Klimawandel vorantreiben und die natürlichen Systeme weiter belasten.

 

Das vorangegangene Global IPBES Assessment aus dem Jahr 2019 kommt zu dem Schluss, dass ein transformativer, systemweiter Wandel notwendig ist, um die Vision 2050 für Biodiversität und Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu erreichen. Was ist mit „transformativem Wandel“ gemeint?

 

Transformativer Wandel meint grundlegende systemweite Veränderungen in den Zielen und der Organisation von Systemen, auch in den Bereichen Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft.  Es ist zentral, Einflussfaktoren auf individueller und kollektiver Ebene der Gesellschaft zu verstehen und zu identifizieren, einschließlich der verhaltensbezogenen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, institutionellen und technischen Gegebenheiten. Dieses Wissen kann dann genutzt werden, um durch Governance einen transformativen Wandel herbeizuführen, der das Verhalten von Menschen und Systemen in verschiedenen Kontexten auf die angestrebten Ziele ausrichtet. Dabei müssen auch umfassendere soziale und wirtschaftliche Ziele im Kontext der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt werden.

 

Welche Rolle spielt die Wissenschaft dabei?                                                                                                                                                                                        

IPBES ist eine unabhängige zwischenstaatliche wissenschaftspolitische Plattform, die von einer Allianz von Staatsregierungen gegründet wurde und vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) unterstützt wird. Das Transformative Change Assessment wird von einer Expertengruppe durchgeführt. Das IPBES verfügt über verschiedene Gruppen, die eine Vielzahl von Themenbereichen abdecken, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse und anderes relevantes Wissen zu den Themen strukturieren und zusammenfassen. Die multidisziplinäre wissenschaftliche Expertengruppe holt zusätzlich Erkenntnisse von externen Experten ein und fasst diese in einem Abschlussbericht für politische Entscheidungsträger zusammen. Die Wissenschaft muss sich aktiv an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik engagieren, um einen transformativen Wandel zu ermöglichen und faktengestützte Strategien, Taktiken und Wege aufzuzeigen, die in der Gesellschaft wirken können.

 

Sie leiten den Forschungsbereich Transformation und Governance am Center for Life Ethics. Governance ermöglicht es der Gesellschaft, durch Regeln, Normen und Institutionen gezielte Veränderungen an lebenden Systemen vorzunehmen. Wie können Wissenschaft, Politik und Gesellschaft gemeinsam einen transformativen Wandel gestalten?

 

Entscheidend ist die Bereitschaft zum Aufbau von Sozialkapital, das meint die Quantität, Qualität und Vielfalt unserer sozialen Beziehungen, und von Vertrauen zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Wir müssen uns auf Augenhöhe begegnen und die Erfahrungen, das Wissen, die Werte und die Ziele, die diese verschiedenen Gruppen vertreten, respektieren. Der Dialog ist der natürliche Ausgangspunkt. Transparenz, wie und warum wir unsere Wissenschaft betreiben, sowie die Einbeziehung dieser Akteursgruppen sind entscheidend für die Verbesserung der Ergebnisse unserer Forschung, die Förderung des Vertrauens in den Prozess und letztlich für die Übernahme des relevanten Wissens in die Praxis durch diejenigen Akteure, die am meisten davon profitieren können.

 

Was kann jeder Einzelne von uns dazu beitragen?                                                                            

                                                                                                                               

Wir können neugieriger sein und sollten nicht vorschnell auf Veränderungen oder Zielsetzungsprozesse reagieren oder sie sofort verurteilen. Veränderungen in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik finden fortwährend statt - aber wir konzentrieren uns oft auf eine Ebene des Wandels, die sich unserer Kontrolle entzieht, oder wir sehen uns gezwungen, eine große Last an individueller Verantwortung zu übernehmen. Im modernen Diskurs über Nachhaltigkeit richtet sich die Aufmerksamkeit auf Maßnahmen auf staatlicher Ebene oder individuelle Verhaltensänderungen. In den meisten Fällen haben jedoch unsere Freundes-, Familien-, Kollegen- und Nachbarschaftskreise einen größeren Einfluss darauf, wie wir uns verhalten und wie wir umgekehrt auf sie einwirken. Diese gemeinschaftliche Ebene - zwischen Individuum und Staat - muss unbedingt gewürdigt und einbezogen werden. Unsere Gemeinschaften sind informell und erfordern unser aktives Engagement, und wir haben einen großen Einfluss darauf, wie wir sie selbst gestalten. Entscheidend ist, dass wir uns aus einer Haltung der Offenheit und Neugier heraus engagieren. Als Einzelpersonen in diesen Gemeinschaften können wir uns fragen: Was sind meine Werte und warum sind sie mir wichtig? Spiegelt mein Handeln diese Werte wider?

 

Nach Auffassung der IPBES ist es unerlässlich, unterschiedliche Weltanschauungen, Werte und Wissenssysteme in Transformationsprozesse einzubeziehen. Das Center for Life Ethics verfolgt in Forschung, Lehre und Beratung einen inter- und transdisziplinären Ansatz mit Ethik als verbindender Querschnittsperspektive. Wie kann Ethik dazu beitragen, transformativen Wandel zu gestalten?

 

Die Ethik steht im Mittelpunkt der Themen, Ziele und Maßnahmen des transformativen Wandels. Ethik und moralische Werte sind von zentraler Bedeutung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Antworten auf die Fragen: Welche Art von transformativem Wandel wollen wir, wem soll er zugutekommen, und welche Handlungen sind ethisch vertretbar, um das Ziel zu erreichen? Um diese Fragen umfassend zu behandeln, benötigen wir das Wissen vieler verschiedener Fachgebiete, müssen uns aber auch direkt mit verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft austauschen. Am Center for Life Ethics erforschen wir diese Forschungsansätze, um diese Fragen mit inter- und transdisziplinären Ansätzen anzugehen.

 

Ihr Beitrag zum Transformative Change Assessment befasst sich mit der von Elinor Ostrom entwickelten Theorie des kollektiven Handelns und ihrem Rahmenkonzept für sozial-ökologische Systeme. Was können wir von Ostrom lernen und wie können ihre Ansätze dazu beitragen, transformative Prozesse zu verstehen und aktiv zu gestalten?

 

Die Theorie des kollektiven Handelns zielt darauf ab zu erklären, wie und warum Individuen kooperieren, wenn sie über gemeinsame Ressourcen verfügen oder kollektive Ziele erreichen wollen. Die Wissenschaft konnte zeigen, dass es viele verschiedene Faktoren gibt, die dazu führen, dass einige Gruppen bei der Zusammenarbeit erfolgreicher sind als andere, und dass die Wahrscheinlichkeit einer effektiven Zusammenarbeit durch die Gestaltung von Prozessen des kollektiven Handelns mit wissenschaftlich untermauerten Schlüsselmerkmalen verbessert werden kann. Dazu gehören z. B. Führung, klare soziale und ökosystemische Grenzen, abgestufte Sanktionierung, vielschichtige Institutionen und Investitionen in Vertrauensbildung und Sozialkapital. Um einen transformativen Wandel zu ermöglichen, ist kollektives Handeln in der gesamten Gesellschaft und Wirtschaft auf allen Ebenen erforderlich, insbesondere bei der politischen Entscheidungsfindung und der internationalen Zusammenarbeit. Die Verbesserung unserer Theorien über kollektives Handeln, um die Zusammenarbeit effektiver zu gestalten, kann kostspielige Misserfolge vermeiden und macht einen Erfolg in der Praxis wahrscheinlicher.

 

 

Der IPBES-Bericht war drei Jahre lang in Arbeit. Werfen wir einen Blick in die Zukunft - was wünschen Sie sich für die Welt in drei Jahren?

 

Was sich viele von uns erhoffen und worauf wir hinarbeiten, sind konkrete Schritte nach vorn - auf allen Ebenen - hin zu einem proaktiven Dialog, der zu einer Zielsetzung mit entsprechenden Umsetzungswegen führt, die dem jeweiligen Kontext angemessen sind. Wir brauchen transformative Prozesse der Veränderung, um eine positive Vision für mögliche alternative Zukünfte zu entwerfen - Zukünfte, die ansprechend und inspirierend sind, weil sie gerechte Chancen für die gesamte Gesellschaft bieten.

 

 

 

*Der Weltbiodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) ist ein unabhängiges, zwischenstaatliches Gremium, das politische Entscheidungsträger mit wissenschaftlicher Beratung und fundierten Informationen zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung von Biodiversität und Ökosystemleistungen versieht. Die 2012 gegründete, stark interdisziplinäre Plattform mit Sitz in Bonn setzt sich aktuell aus 147 Mitgliedsstaaten zusammen.

 

Kontakt

Dr.

Stefan Partelow

stefan.partelow@uni-bonn.de

Presse/Kommunikation

© MedizinFotoKöln

PR Officer
Projektmanagerin Haus für junges Denken

M. A.
Silke Gaertzen

Kontakt

Standort

Center for Life Ethics

Schaumburg-Lippe-Straße 7

53113 Bonn

IPBES Pressemeldung
Newsletter

Aktuelle Infos in unserem Newsletter